Wir als IZDA haben uns entschieden, unsere Arbeit auf die Unterstützung, die Bestärkung und Organisierung von Geflüchteten und Migrant:innen, sowie ihren Verbündeten in Chemnitz zu konzentrieren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. In diesem Text werfen wir einen Blick darauf, was das Projekt IZDA angesichts des globalen, nationalen und lokalen Kontextes bedeutet.
Globale Ebene: Flucht, Migration & Prekarisierung
Flucht und Migration haben die Welt verändert. Ende 2022 waren 19 Millionen Menschen mehr auf der Flucht, als Ende des Jahres 2021. Das ist ein Anstieg um 21% innerhalb eines Jahres – ein trauriger Rekord. Bereits jetzt, zum Sommer 2023, wird die Zahl der flüchtenden Menschen weltweit auf insgesamt 110 Millionen geschätzt. In diesem Kontext wird von Politiker:innen viel über „Migrationsmanagement“, die Aufnahme und Abschiebung von Geflüchteten oder den „Grenzschutz“, also die Militarisierung der (europäischen) Außengrenzen und den Abschluss schmutziger Deals mit Türsteher-Ländern wie Türkei, Lybien und Marokko diskutiert. Viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen die Geflüchteten selbst – die Menschenrechtsverletzungen, der Rassismus, die Ausbeutung und die Isolation. Und verdrängt wird, dass wir das brutale System des Kapitalismus durch ein besseres Gesellschaftssystem ersetzen müssen. Nur so können wir die Ursache der vielen Krisen auf der Welt bekämpfen.
Viele Geflüchtete und Migrant:innen auf der ganzen Welt haben große materielle Nachteile. Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, müssen oft ihren ganzen Besitz zurück lassen. Viele Familien müssen ihre Ersparnisse für die Schlepper aufbrauchen und leben teilweise jahrelang in Camps, wo es an den nötigsten Dingen mangelt. Flüchtende Menschen werden immer verwundbarer, weil ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse zunehmend unsicherer werden. Besonders arbeitslose oder Menschen mit geringem Einkommen oder in Gefangenschaft lebende Menschen leben oft in prekären Bedingungen. Sie sind in vielen Lebensbereichen fremdbestimmt. Menschen die fliehen, etwa vor Armut, Gewalt oder den Auswirkungen der Klimakrise, sind häufig auf der Flucht oder in den Camps zusätzlich traumatischen Erfahrungen und Gewalt ausgesetzt. Insbesondere für Kinder hat das oft entwicklungsschädigende Folgen und besonders Frauen sind von sexualisierter Gewalt betroffen. Millionen Menschen leben in Geflüchtetencamps, Aufnahmelagern oder auf der Straße und hoffen darauf, von der Welt nicht vergessen zu werden. Und jeden Tag verlieren hunderte Menschen ihr Leben auf der Flucht. Seit 2014 sind etwa 30.000 Menschen im Mittelmeer gestorben – weil die Menschenrechte des Westens eben nicht für Alle gelten. Europa scheint sich an das Sterben zu gewöhnen. Aber wir werden diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit niemals akzeptieren und stehen immer auf der Seite der Flüchtenden, der Hungernden und der Leidenden.
Die Zahl der Geflüchteten weltweit ist zwischen 2011 bis 2023 stark angestiegen (von 40 Millionen auf 110 Millionen Menschen). Es wird erwartet, dass diese Zahl in den kommenden Jahren noch größer wird. Flucht und Migration können also längst nicht mehr als vorübergehende Krisen bezeichnet werden. Vielmehr bedeuten die heutigen globalen Fluchtbewegungen einen nicht umkehrbaren gesellschaftlichen Wandel, der strukturelle Änderungen des Systems erfordert. Die Forderungen nach grundlegenden Veränderungen sind in den letzten Jahren immer lauter geworden. Vor allem auch Geflüchtete und Migrant:innen in Europa und in Deutschland erheben immer mehr ihre Stimmen. Wir unterstützen die Forderungen nach einem Ende der Kriege, für soziale Sicherheit und eine würdige Behandlung von Geflüchteten und Migrant:innen. Wir wollen soziale Gerechtigkeit für alle Menschen auf der Welt. Wir wissen, dass der Kapitalismus, das Patriarchat und der Rassismus nicht von heute auf morgen besiegt werden können. Aber wir sehen, dass überall die Menschen für ihre Rechte und eine bessere Zukunft kämpfen. Wir betrachten das IZDA als kleinen Teil einer internationalen Bewegung und versuchen, von anderen Initiativen zu lernen.
Nationale Ebene: Die postmigrantische Gesellschaft
IZDA arbeitet in Chemnitz. Für unsere politische Analyse ist es aber wichtig, dass wir die Gesellschaft verstehen, in der wir leben. In Deutschland leben 2.1 Millionen Geflüchtete (Stand 2022). Doch mindestens jede vierte Person in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte in der Familie. Das sind etwa 28.7% von der Gesamtbevölkerung. Wir leben also in einer postmigrantischen Gesellschaft, weil Migration schon lange die gesellschaftliche Realität ist. Wir wollen dazu beitragen, die Vielfalt der Gesellschaft zu stärken. Trotzdem gibt es in Deutschland immer noch Strukturen und Mechanismen, welche die soziale Ungleichheit zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte fördern.
Geflüchtete in Deutschland müssen oft sehr lange auf eine Arbeitserlaubnis warten. Viele Menschen leben in Deutschland jahrelang mit Duldung und ohne Arbeitserlaubnis. Sie haben dann einen unsicheren Aufenthaltsstatus und sind von Abschiebung bedroht. Vergleicht man Deutschland mit anderen Ländern, leisten hier viel mehr Migrant:innen gering qualifizierte und somit auch niedrig entlohnte Arbeit. Besonders in großen Städten fällt auf, dass Migrant:innen die Nachtschichten besetzen, Geschirr waschen und Toiletten putzen. Insgesamt werden 40% dieser Jobs von Migrant:innen verrichtet. Sie verdienen im Durchschnitt weniger Geld, als Menschen ohne Migrationsgeschichte. Viele gut gebildete Migrant:innen müssen unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiten. Im Jahr 2023 waren etwa 15.4% der Migrant:innen in Deutschland arbeitslos. Migrant:innen haben im Mittel pro Person eine Wohnfläche von 30 Quadratmetern zur Verfügung, also 15 Quadratmeter weniger als Menschen ohne Migrationshintergrund. Der Grundstein für die materielle Benachteiligung am Arbeits- und Wohnungsmarkt wird bereits im Bildungssystem gelegt. Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte sind in der Schule und in der Ausbildung strukturell benachteiligt. Egal, welchen Bereich der Gesellschaft wir betrachten: Migrant:innen haben immer schlechtere Karten als Deutsche ohne Migrationsgeschichte.
Ebenso auf politischer Ebene sind Migrant:innen benachteiligt, fühlen sich nicht repräsentiert oder haben wenig einladende Möglichkeiten zur Partizipation. Etwa 12.6% (8.7 Millionen) der erwachsenen Menschen in Deutschland sind nicht wahlberechtigt, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Wahlberechtigte Migrant:innen beteiligen sich außerdem weniger an Wahlen, als Menschen ohne Migrationsgeschichte. Abgeordnete mit Migrationsbiografie sind sowohl im Bundestag als auch in den Landes- und Kommunalparlamenten deutlich unterrepräsentiert. Der Anteil von Migrant:innen in den Parlamenten liegt zwischen 4.1% (CDU) und 28.2% (Die Linke). Von den 336 Oberbürgermeister:innen in Deutschland haben nur vier Personen eine Migrationsgeschichte, also 1.2%. Diese Zahlen entstehen einerseits, weil Migrant:innen sich politisch weniger beteiligen – etwa wegen Sprachhindernissen, Diskriminierungserfahrungen oder einem mangelnden Vertrauen in die Politik. Wichtig ist aber auch die strukturelle Benachteiligung und Ausgrenzung von Migrant:innen durch Parteien und Behörden. Diese institutionellen Hindernisse wirken zusätzlich zusammen mit dem tief verwurzelten gesellschaftlichen Rassismus.
Seit den 1950er Jahren kommen vermehrt Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland. Und seitdem es hier Migrant:innen gibt, gibt es auch rassistische Gewalt. Einige der schlimmsten Gewalttaten durch Neonazis waren die rassistischen Anschlägen der 1980er Jahren wie in Hamburg, Duisburg und Schwandorf. In den 1990er Jahren organisierten Neonazis die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda und die Brandanschläge von Solingen und Mölln. In den 2000er Jahren terrorisierte der NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) die Bundesrepublik. Der NSU beging 43 Mordversuche und ermordete insgesamt neun Migranten. 2016 ermordete ein Neonazi am Olympia-Zentrum in München neun Menschen – viele weitere wurden verletzt. Der rechte Anschlag 2019 in Halle erschütterte die jüdische Gemeinde und forderte zwei Tote. Unvergessen bleibt auch der rechtsterroristische Anschlag in Hanau 2019, wo neun Migrant:innen grausam ermordet wurden. Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 haben Neonazis mindestens 220 Menschen ermordet. Darunter sind viele Migrant:innen, aber auch Obdachlose, Jüd:innen, politische Gegner:innen, Homosexuelle, mutmaßliche Kriminelle, Menschen mit Behinderung, Sexarbeiter:innen, Frauen oder sozial benachteiligte Menschen. Einige Menschen starben durch die Hände von Neonazis, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Insgesamt gab es über 15.000 rechte und rassistische Gewalttaten in Deutschland seit 1990. Diese Verbrechen haben zu viele Leben gekostet und sind Teil der kollektiven migrantischen Erinnerung. Wir gedenken der Opfer und sind im Herzen bei den Familien und Freund:innen.
Im Jahr 2022 sind Gewalttaten mit rechter Motivation in Deutschland um 15% gestiegen (auf 1340 Fälle im Vergleich zu 2021). Rechtsmotivierte Gewalt ist ein riesiges Problem und Teil der Alltagsrealität vieler Migrant:innen. Menschen mit Migrationsgeschichte haben in Deutschland nicht nur mit systematischer Ungleichbehandlung zu kämpfen, sondern auch mit alltäglichem Rassismus und der Gewaltbereitschaft von Rechtsradikalen. Die Initiativen, Organisationen und Aktionen von Migrant:innen haben jedoch in den letzten Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass sie nicht nur Opfer und Betroffene sind, sondern auch Kämpfer:innen. Umso wichtiger ist es, dass von Rassismus betroffene Menschen unterstützt und bestärkt werden und die Gelegenheit bekommen, sich selbst zu organisieren. Wir sind selbst Migrant:innen oder ihre Verbündete und wir wollen dafür einstehen, den Forderungen und Kämpfen unserer Schwestern und Brüder Kraft zu verleihen.
Lokale Ebene: Neonazis, Politik & Migrant:innen in Chemnitz
Chemnitz ist nicht erst seit 2018 für die rechte Szene in Deutschland von Bedeutung. Spätestens seit den 1990er Jahren ist die Stadt ein ruhiger Hafen für Neonazis. Die Mitglieder des NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) konnten in Chemnitz ungestört ihre terroristischen Anschläge vorbereiten. Zwischen 1998 und 2004 verübte das NSU-Trio sieben Raubüberfälle in Chemnitz. Ohne die hier erbeuteten 600.000€ wären die grausamen Terroranschläge des NSU niemals möglich gewesen. In Chemnitz wurde auch die Mordwaffe (Ceska 83) übergeben, mit welcher später neun unschuldige Menschen und eine Polizistin hingerichtet wurden. Wir gedenken den Opfern und Hinterbliebenen von neun Morden, einem Mordversuch, drei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen.
Die Machenschaften des NSU in Chemnitz sind ein Höhepunkt in der rechtsradikalen Geschichte dieser Stadt. Viral ging Chemnitz jedoch vor allem durch die rechtsradikalen Mobilisierungen und Gewalttaten im Jahr 2018. Bis heute existieren starke rechte Strukturen im Stadtrat, im Fußball (CFC), im Kampfsport, im Rechtsrock, im Vertrieb rechtsradikaler Produkte und im Sicherheitsgewerbe. Weitere Informationen findet ihr in unserem Beitrag „Neonazis in Chemnitz“ und gute Quellen auf der Seite „Informationen über Chemnitz“.
Chemnitz ist aber nicht nur eine Hochburg der rechtsradikalen Szene. Die politischen Aktionen der Chemnitzer:innen in den letzten Jahren haben ihren Willen zur politischen Veränderung und das Potenzial der demokratischen Selbstorganisierung von Migrant:innen in Chemnitz gezeigt. Wichtige aktuelle Themen sind die Krisensituationen in verschiedenen Herkunftsländern und die rechte Gewalt in Chemnitz. Außerdem beschäftigen wir uns mit dem alltäglichen Rassismus durch Behörden, Polizei und Zivilgesellschaft. Relevant sind ebenso die unmenschlichen Bedingungen in Geflüchtetenunterkünften und die Integrationspolitik der Stadt im Allgemeinen. Viele von Rassismus betroffene Menschen wollen sich für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung und Gewalt einsetzen. Doch dafür fehlen eigene Räume zur Selbstorganisierung. Ohne Räume ist es schwer, die Stimmen von Migrant:innen in die Öffentlichkeit zu tragen. Viele Menschen in dieser Stadt fühlen sich isoliert und finden es schwierig, Kontakte zu anderen Communities oder zu Chemnitzer:innen mit Deutsch als Muttersprache zu knüpfen. Deshalb möchten wir auf dem Sonnenberg einen konkreten sozialen Treffpunkt mit dem Schwerpunkt der demokratischen Selbstorganisierung von Migrant:innen aufbauen: Das „Internationale Zentrum für Demokratie und Aktion“ (IZDA).
Weitere Informationen:
Eine umfangreiche Dokumentation der Todesfälle findet sich auf der Website der Amadeo-Antonio-Stiftung.